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Angst vor den eigenen Schülern
Die unzensierte Antwort eines Schülers auf ein Redeverbot bei der „Bestenehrung“
Düsseldorf, den 24.09.2008
ich bin enttäuscht. Als ich zur „Ehrung“ der Besten 2008 eingeladen wurde, fragte ich die zuständige Dame in der Staatskanzlei, wer alles bei der erwähnten Veranstaltung sprechen würde. Als ich erfuhr, dass ausschließlich Vertreter aus Politik und Wirtschaft Reden halten sollten und kein Repräsentant unserer gewählten Schülervertretung, erbat ich mir in einer E-Mail selbst das Recht, fünf Minuten zu sprechen. Auf diese E-Mail erhielt ich keine Antwort.
Als ich mich dann für die Bestenehrung anmeldete, erneuerte ich mein Anliegen. Dieses Mal rief mich die Staatskanzlei an und sagte, dass diesem Wunsch nicht entsprochen werden könne. Denn, wenn man es mir erlaube, müsse man es allen erlauben. Außerdem hätten Sie, Herr Rüttgers, keine fünf Minuten Zeit. Dringende Anschlusstermine.
Zumindest letztere Begründung muss ohne Ihr Wissen auf einer niedrigen Hierarchieebene erfunden worden sein. Ist es nicht so? Wer könnte ernsthaft annehmen, dass Sie, für den Bildungspolitik stets eine herausragende Stellung einnahm, ernsthaft Termine hätten, die Sie daran hindern würden, den Menschen zuzuhören, die von dieser Politik betroffen sind: den Schülern Ihres Landes?
Sollte also die andere Begründung zutreffender sein? War es unmöglich, meinem Anliegen stattzugeben, weil dann viele andere ebenfalls auf eine eigene Rede gepocht hätten? Wohl kaum. Mein erster Vorschlag war schließlich, einen Landesschülersprecher als Redner einzuladen. Niemand kann annehmen, er hätte selbst ein Rederecht, nur weil sein gewählter Vertreter sprechen darf. Dieser Vorschlag wurde ohne einleuchtende Begründung abgelehnt.
Auch ich durfte nicht reden. Dabei war ich nach Aussagen der Staatskanzlei bis zu diesem Zeitpunkt der einzige Gast mit diesem Anliegen. Wem also hätte ein Auftritt verboten werden müssen?
Die Frage stellt sich aber: Warum soll kein Schüler bei dieser Veranstaltung sprechen?
Das hört sich vernünftig an. In Nordrhein-Westfalen ist davon jedoch nichts zu spüren, da individuelle Förderung an mehr Personal und Zeit gebunden wäre. Gerade daran mangelt es: Die Klassenverbände sind immer noch viel zu groß, und die Schulzeit bis zum Abitur wurde im Laufe der Reformwütigkeit der Landesregierung um ein Jahr verkürzt. Wo soll in einem solchen Schulsystem Platz für individuelle Förderung sein? Wie kann man ernsthaft annehmen, die Lehrer könnten sich individuell um jeden Schüler kümmern, wenn man nicht bereit ist, dafür entsprechend mehr Geld auszugeben? Wie soll individuelle Förderung zum Nulltarif möglich sein?
2. These: „Wir wollen Deutsch, Mathematik und Fremdsprachen zu unseren Kernfächern machen und ihnen einen besonderen Stellenwert geben.“
Diese Überlegung scheint auf den ersten Blick angemessen. Wenn wir aber feststellen, dass das im Umkehrschluss bedeutet, Fächer wie Kunst und Musik aus den Lehrplänen zu streichen, beziehungsweise ihnen eine beinahe überflüssige Nebenrolle zuzuordnen, sieht die Sache schon etwas anders aus; denn auf Dauer wird der fehlende Einfluss kreativer Fächer zu einer geistigen Abstumpfung künftiger Generationen führen. Und warum sollten Menschen, denen zum Beispiel einfach jede mathematische Begabung fehlt, nicht Germanistik studieren dürfen, nur weil sie keine Chance erhalten, ihr Abitur zu machen? Wiegen ihre ganzen anderen Begabungen diese eine Schwäche nicht auf?
3. These: „Um das alles zu erreichen, werden die Lehrer deutlich mehr Freiheiten bekommen, dafür aber auch Verantwortung für ihre Arbeit übernehmen.“
Lüge! Wer in Nordrhein-Westfalen das Zentralabitur einführt und den Lehrern völlig unflexible Lehrpläne aufzwingt, kann unmöglich davon ausgehen, für mehr Freiheit im Unterricht zu sorgen. Stattdessen verzweifeln immer mehr Lehrer daran, allgemeinbildenden Stoff wie Goethes „Faust“ nicht mehr in der Abitur-Vorbereitungsphase unterbringen zu können, da es vom Ministerium nicht vorgesehen ist.
4. These: „Wir bekennen uns auch zum Entscheidend ist, was rauskommt! Um das zu bewerten, benötigen wir regelmäßige Leistungsüberprüfungen der Schüler, also landesweite Tests. Wir müssen uns vergewissern, auf dem richtigen Weg zu sein. Zum ersten Mal wird die Leistung von Schulen analysiert. Weil starre Grenzen den Leistungswillen erschlaffen lassen, brauchen wir den Wettbewerb.“
Indem die Schüler noch mehr Prüfungen unterzogen werden, steigt der Leistungsdruck immer weiter an; und unter diesem Druck steigt dann im Laufe der Zeit – nach Ihren Berechnungen, Frau Sommer – auch die Leistung der Schüler.
Beantworten Sie mir bitte eine Frage: Wenn man einer Gruppe von Nichtschwimmern das Schwimmen beibringen möchte, wie hilfreich ist es, die Tiefe des Wassers und damit den Leistungsdruck zu erhöhen? Sicher, einige werden aus der Not heraus das Schwimmen lernen, aber wie viele müssen dafür untergehen?
Fragen Sie sich bitte selbst: Welchen Wert hat Bildung, die leidenschaftslos durch stures Lernen und Prüfungsdruck erlangt wird? Was wollen Sie ausbilden? Menschen oder Arbeitskräfte? Mündige Bürger oder bloß funktionierende, atmende Maschinen?
5. These: „Unsere Schule braucht wieder Werte. Also wird deren Vermittlung einen zentralen Platz im Unterricht einnehmen.“
Lüge! Niemand kontrolliert, wie Wertevermittlung in den Unterricht einfließt. Eine Konkretisierung dieses Konzepts liegt vermutlich nicht vor. Zudem stellt sich automatisch die Frage, wo in diesen ohnehin straffen Lehrplänen noch Wertevermittlung untergebracht werden soll…
6. These: „[Es ist] unsere Absicht, Kopfnoten zur Beurteilung des Arbeits‑ und Sozialverhaltens wieder einführen.“
Allgemein anerkannt ist die Tatsache, dass die so genannten „Soft Skills“ wie Kreativität, Teamgeist und Einfühlungsvermögen für den beruflichen und privaten Erfolg mindestens genau so wichtig sind wie das reine Fachwissen. Dennoch gibt es in der Schule keinen Raum für ihre Vermittlung – abgesehen davon verfügen die Lehrer nicht über die entsprechende Qualifikation.
Nun maßt sich die Schule an, solche Fähigkeiten in Form von Kopfnoten bewerten zu wollen. Das ist blanker Hohn.
Kinder, die heute eingeschult werden, müssen etwa bis ins Jahr 2070 arbeiten – wenn sie überhaupt jemals in Rente gehen können. Niemand von uns kann sich vorstellen, wie unsere Arbeitswelt 2020 aussieht, oder 2015, geschweige denn 2070! Wir wissen aber: Sie wird sich in jedem Fall massiv verändern. Wie können wir denn davon ausgehen, dass ein Schulsystem, das zu Zeiten der Industrialisierung entstanden ist, die Schüler auf das Arbeitsleben 2070 angemessen vorbereitet?
In einer sich ständig ändernden Arbeitswelt ist Kreativität so wichtig wie Lesen und Schreiben. Kreativität kann sich aber nur dort entfalten, wo auch Scheitern erlaubt ist. Wer ständig beurteilt wird, äußert keine gewagten Ideen – und Ideen sind das Kapital der deutschen Wirtschaft. Die Atmosphäre ständigen Leistungsdrucks in unseren Schulen trägt nur dazu bei, die natürliche Kreativität der Schüler zu töten.
Noch ist es nicht zu spät! Tun Sie etwas! Pumpen Sie alles verfügbare Geld in die Bildung! Machen Sie neues Geld verfügbar! Investitionen in Bildung zahlen sich immer aus! Setzen Sie endlich um, was Sie vollmundig versprechen!
Und: Hören Sie auf Ihre Schüler, denn sie sind die Betroffenen und die Leidtragenden.
Wenn Sie aber endlich die 180°-Wende schaffen, werden Ihre Schüler die Gewinner sein und Sie werden keine Angst mehr haben müssen, dass die Meinung eines Schülers an die Öffentlichkeit dringt.
Mit freundlichen Grüßen,
Verantwortlich für diesen Brief im Sinne des Presserechts:
Leonard Wehmeier leo.wehmeier@googlemail.com
Jannis Funk jannis.funk@googlemail.com
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